Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich, CDU, kann sich nicht erinnern, ob er 1989 an einer Schulung an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam teilgenommen hat. Das ist so ein Kreuz mit der Erinnerungsfähigkeit, das nicht nur Herrn Tillich plagt. Alles, was vor der Wende liegt, verschwindet gern im Verschwiegenen und Vergessenen. Aber es ist auch ein Problem der Wahrnehmung der anderen: Ein Mitarbeiter eines Rates des Kreises ist kein Widerstandskämpfer gegen kommunistische Gewaltherrschaft gewesen. Ein Stellvertreter des Vorsitzenden noch weniger. Nein, es handelt sich um eine ganz normale Karriere in der DDR. Dass er auch mal an der Kaderschmiede für Führungskräfte in Potsdam politisch getrimmt wurde, ist da nur die notwendige Voraussetzung gewesen, um die Qualifikation als Stellvertreter zu erlangen. Es stört heute erstaunlicherweise niemanden, dass ein ehemaliger DDR-Funktionär Ministerpräsident des Freistaats ist. Ob Kategorie B oder C, sollte dabei eigentlich nachrangig sein.

Versuchen wir einmal, uns zu erinnern: Außer Zweifel steht, dass die DDR eine Diktatur war. Verfassungsgemäß hatte die SED die führende Rolle in allen öffentlichen Angelegenheiten inne, gemeinsam mit den Parteien und später auch Massenorganisationen des antifaschistischen Blocks, der so genannten „Nationalen Front“. Die Zusammensetzung der Parlamente stand im Vorhinein fest, da ausschließlich eine gemeinsame Liste der beteiligten Parteien zur Wahl, oder besser zur Bestätigung, stand. In der Exekutive* war die Präsenz der SED noch deutlicher, aber die Angehörigen der anderen Parteien erhielten durchaus ihre Chance. Zum Beispiel im Bereich des Handels: Der Kreischefsessel für Handel und Versorgung war für die CDU reserviert, berichtet eine ehemalige Kollegin. Keine Chance auf Karriere hatte nur, wer sich dauerhaft jeder Parteizugehörigkeit verweigerte. Klar sollte aber bei allem Verständnis sein: Es ist niemand gezwungen worden, einer Partei beizutreten. Die Mehrheit der DDR-Bürger war nicht parteilich organisiert. Wer ein Studium anstrebte, wer nach dem Studium eine Stelle im mittleren oder gehobenen Niveau antreten wollte, wurde selbstverständlich gefragt, ob er einer Partei beitreten wolle. Üblicherweise wohnte einem solchen kaderpolitischen Gespräch der Betriebsparteisekretär (der SED) bei, der, je nach Kandidat, die Empfehlung für eine Partei aussprach. „Sie sind doch Christ. Da sind Sie doch in der CDU genau richtig.“ war zum Beispiel der Satz, den der Autor bei entsprechender Gelegenheit (Möglichkeit eines Studiums im sozialistischen Ausland) zu hören bekam. Aber das war kein Zwang, sondern die freie Entscheidung jedes Einzelnen für eine Karriere inklusive Parteizugehörigkeit und damit verbundenem deutlichen und öffentlichen Bekenntnis zum real existierenden Sozialismus. Man konte sich auch gegen ein solches Bekenntnis entscheiden, um den Preis, von zukünftiger Karriere ausgeschlossen zu sein. Das Maximum war dann eben ein Ingenieursstudium und anschließende Dauersubalternität. Nur wenige ausgewiesene Fachleute haben es geschafft, in ihrem Gebiet ohne das Bonbon etwas zu werden.

Stanislaw Tillich hat das Bonbon genommen. Er war Teil des DDR-Apparats, als Mitglied einer Blockpartei zwar ohne Chance, jemals Vorsitzender des Rates des Kreises zu werden – diese Machtposition hatte sich die SED gesichert – aber ganz nahe an der Macht im damaligen Kreis Kamenz. Mit seiner Arbeit hat er zur Stabilität des Regimes beigetragen. Ein Opportunist unter vielen. Das hat die CDU niemals gestört. Man braucht die Leute ja. Das hat auch die Wähler nicht gestört, die ihm das Mandat als Landtagsabgeordneter übertragen haben. Heute stört es, dass zu dieser Karriere auch die Schulung in Potsdam gehörte. Es ist glaubwürdig, dass sich der Ministerpräsident nicht mehr an die Schulung selbst erinnert. Es wird eine unter vielen gewesen sein. Die übliche Schutzhaltung gegen solcherlei „Rotlicht“ war, die Ohren „auf Durchzug“ zu stellen. Scheinheilig wirkt diese Erinnerungslücke nur dann, wenn gleichzeitig einer anderen Partei, Der Linken, vorgeworfen wird, sie sei die direkte Nachfolgerin der SED und konserviere deren überholte Ideologie. Dem ist zu entgegnen: Bei Der Linken ist das immerhin zu erwarten. Bei der CDU vergisst man es oder kehrt es unter den Teppich. Deshalb muss sich die Ost-CDU vorwerfen lassen, die Partei der Opportunisten zu sein. Damals wie heute.

Und wenn wir einmal beim Thema Blockparteien sind, schließt sich die Frage an: Wo sind sie geblieben, die Mitglieder von Demokratischer Bauernpartei, Nationaldemokratischer Partei und auch die der LDPD? Widerständler waren sie damals und heute nicht, aber durchaus in Amt und Würden. Raus sind nur die wirklich prominenten Funktionäre. Gefährdet sind heute die, die prominent und dann unverhofft an Vergangenes erinnert werden. Ein trauriges Thema, das noch viele vermeintliche Überraschungen bringen kann.

Quellen: SpOn, sachsen.de, pr-inside, welt.de, stanislaw-tillich.de, yahoo news

* Der Begriff „Exekutive“ ist hier nicht im klassischen Sinn zu sehen, da es in der DDR keine Gewaltenteilung gab.